19. Abelina

Mahisha befindet sich auf dem Weg ins Dorf. Sie wird eine kranke Frau mit Lepra besuchen und ihr das dringend benötigte Antibiotikum bringen. Das leichte Sommerkleid umspielt luftig die Waden. Mit jedem Schritt genießt sie die Landschaft. Für Mahisha scheint nichts karg zu sein. Sie schaut zu den Zuckerrohrfeldern und erfreut sich am grasartigen Erscheinungsbild der hohen Pflanzen, die bis zu 6 m hoch wachsen können. Eines der Kinder, die sie begleiten, bricht ihr ein Stück Zuckerrohr ab und schält ihr geschickt die Stange. So saugen und lutschen sie gemeinsam.
Staunend bleibt Mahisha vor einem Termitenhügel stehen und beobachtet wie ein paar Mungos hervorkommen. „Ah, Grüß Gott! Ihr seid wohl jetzt die neuen Mieter, “ sagt sie angetan von den putzigen Zebramangusten.
Ein Baobab, ein Flaschenbaum mit seinen typisch bauchigem Stamm und kurzen Ästen, lädt die Kinder zu einer kleinen Kletterpartie ein, und Mahisha kann nicht aufhören diese geschickten Kletterkünstler zu bewundern und sich an ihnen zu freuen.
„Ma-Ama, komm du auch hoch!“ rufen sie ihr begeistert zu.
„Ja, warum eigentlich nicht? Ihr macht mir richtig Lust. Kann mir jemand seine Hose leihen?“ Die Kinder lachen belustigt über die lustige Weiße und halten sich dabei ihre kleinen Bäuche.
Ein Kind, hoch oben im Baum, hebt die Hand an die Stirn und schaut in die Ferne:
„Könnt ihr das auch sehen?“
Am Horizont wirbelt der lange, gewundene Rüssel einer Windhose Staub auf und zieht ihn hunderte Meter hoch hinauf.
Im Flimmern der Hitze heben sich nach einiger Zeit Fußmarsch in der Ferne ein paar dunkle, niedrige Hütten ab.
„Wir sind gleich da.“
Matu drängt sich eng an Mahishas Seite und flüstert ihr zu: „Ma-Ama, du wirst bald jemand kennenlernen.“
Mahisha legt den Arm, um den 8-jährigen Matu und schaut ihn aufmerksam an:
„Wer ist es?“
„Er ist mir so nah.“
„Ja, Matu, ich glaube, ich weiß, was du meinst…“
Es ist auf einmal so, als teilt sich Matu ihr wortlos mit, während sie so eng nebeneinander her schreiten.
„Er ist wie der Wind. Du weißt, dass er da ist, aber du siehst ihn nicht.“

„Wie kann ich ihn dann kennenlernen?“

„Du lernst sie kennen, weil ihr Rat in dir ist.“

„Ist es denn nun ein Mann oder eine Frau?“

„Sie ist alles und doch keines von beiden.“

„Wie nennst du sie?“

„Nenn sie Abelina. Sie ist da und wird dir alles zeigen. Ihre Vertrautheit ist das Kostbarste, was du je kennengelernt hast und kennenlernen wirst.“
„Ist das Leben in diesem neuen Land so abenteuerlich und geheimnisvoll, dass man es nicht einfach selber entdecken kann“, fragt Mahisha und schaut Matu forschend an.
„Ja, du wirst eine Führung brauchen. Wenn du dieser Führung einfach vertraust, wird sich dir das Paradies Schritt für Schritt erschließen.“

„Das macht mich sehr neugierig. Gerne würde ich Abelina jetzt kennenlernen.“

„Eigentlich kennst du sie schon. Bald wirst du mehr wissen.“
Mahisha grübelt abends im Bett noch lange über die geheimnisvollen Worte nach. Eine unbändige Freude beginnt sich in ihr zu regen, wenn sie an ihre Begegnung mit Abelina denkt.

Für den, der weiß, dass er im neuen Land immer willkommen ist, gleichen scheinbare Herausforderungen einer weiteren Erkundungsfahrt ins Landesinnere. Das neue Land der Liebe ist sehr weit. Jeder, der sich aufmacht, es kennenzulernen, bekommt einen sehr weisen Reiseführer zur Seite gestellt.

An einem warmen Abend im Juni ist es dann soweit. Mahisha hat eine Begegnung mit jenem Unbekannten:

Mahisha schaut auf die Uhr. Schon 23.30. Spät kommt sie heute vom Spital nach Hause. Längst ist die Sonne hinter die Berge gestiegen und der Mond hat erhaben und voll übernommen. Im Mondlicht taucht ihre Silhouette auf - heller als alles um sie herum.
Mahisha betritt die Veranda und lässt sich dankbar in den Schaukelstuhl fallen. Heute scheint sie den sanften Windhauch, der ihr sanft über die Wangen streicht und das hohe Gras bewegt, wie er will und den prall gefüllten Nachthimmel nicht wahrzunehmen.
Sie scheint ganz damit beschäftigt, die Ereignisse des Tages abspulen zu lassen. Es ist wie der Blick auf eine Leinwand mit einem faden Film.
Eine Hand fasst ihr auf die Schulter:
„Wie ich die afrikanischen Nächte liebe…“
Mahisha spürt die Anwesenheit von Lesley: „Ah, ich hörte gar nicht wie du gekommen bist.“
„Nein, du bist mit dir beschäftigt…“
„Ich schätze mal, da entgeht einem am meisten.“
„Ich bin da, auch wenn du mich nicht siehst.“
Mahisha schnellt herum, kann aber niemand ausmachen: „Ah, dann bist du wohl Abelina. Ich dachte es sei Lesley…“ Mahisha macht eine kurze Pause bevor sie dann fortfährt:
„Das ist merkwürdig, obwohl ich dich nicht sehe, erscheinst du mir so vertraut und ich empfinde unendliches Glück darüber, dass du da bist!“
„Dies ist der wahre Genuss, den du den ganzen Tag haben kannst. Stell deine Füße in die Wanne mit kaltem Wasser, wenn du magst.“
„Du hast ein Fußbad vorbereitet?!?“
Mahisha streift schnell die Sandalen von den Füßen und taucht ihre Füße dankbar in die bereitgestellte Wanne, dabei seufzt sie wohlig.
Abelina macht sich dran, Mahisha den verspannten Nacken und die Schultern mit geschickter Hand zu massieren. Mahisha lässt sich zurückfallen und schließt die Augen.
Das tut mir sooo gut, “ seufzte Mahisha und ein bisschen von der Anspannung ist schon gewichen.

„Es ist heute so ein Ansturm im Spital gewesen.“

„…da hast du dich ein wenig beeindrucken lassen von der Not, die du heute sahst.“

Das eifrige Zirpen der Grillen ist jetzt alles, was zu hören ist. Zu jeder gelungenen Nacht gehört dieses feine Konzert liebeshungriger Männchen.
„Dieser Wind, den sie Upepo nennen, streicht dir über die Wangen und du merkst es heute nicht.“
Mahisha nickt.
„So ist er den ganzen Tag da, und so wie du jeden Abend beobachtest, wie er das hohe Gras bewegt, so hat er dich viele Male bewegt und du hast so sehr mit ihm übereingestimmt, dass du es kaum merktest, aber genau wusstest.“
„Ja, ich weiß. Du warst dabei:
„Ich kann es jetzt sehen: Ich ließ mich überwältigen von der Not – dieser gewaltigen, drängenden, nie Ruhe gebenden Not. Dann übernahm sie das Kommando.“
„Du hast es ihr überlassen, Mahisha, “ merkt Abelina behutsam an.
„Hier will die Not dich Tag für Tag bis zum Letzten treiben und dir dann gleich zuflüstern: Es ist nicht genug.“
Da streicht der Wind ihr wieder durchs Haar.
„Du bist so unendlich zartfühlend. Dein Rat fließt weich wie Wasser durch mein Herz und ich bin nur glücklich, wenn ich ihm folge. Meine eigenen Kraftreserven werden von der Not aufgefressen, aber in dir ruhend werde ich selber zur Quelle strömenden Wassers der Heilung.“
Abelina nickt glücklich:
„Du sprichst große Geheimnisse der Weisheit aus.“
„Danke, Upepo, ich habe dir einfach schon oft zugehört…und oft eben auch nicht.“
Abelina sagt nichts dazu, dass Mahisha sie Upepo genannt hat. Es scheint alles so zu stimmen.
„Ich liebe Dich“, flüstert Mahisha
„Es macht mich unendlich glücklich“, antwortet Abelina und schweigt einen prall gefüllten Augenblick lang.
Die Atmosphäre ist nun satt von Freude und Frieden.
Jetzt scheint der Weg frei für einen tieferen Vorstoß:
„Du bist den ganzen Tag wie ein exzellenter Retter aufgetreten. Ist das denn nicht befriedigend?“ erkundigt sich Abelina, so als wenn sei ein wenig das Planetenleben studieren wolle.
„Ach, wenn interessiert das. Ist es für dich befriedigend, Abelina?“
„Nein, ich habe dich vermisst: Dein Lachen, deine Schelmigkeit und deinen besonderen Witz.“
„Wieso vermisst du mich, wenn ich doch da bin?“
„Manchmal bist du bedeckt vom Staub der Erde.“
„Ich weiß schon, ich habe mein eigenes Ding gemacht…Ich war einfach hilfreich und gut – jedenfalls erwartet man das von mir. Es ist schrecklich. Merkwürdig, erst wenn ich Zeit mir dir genieße, wird mir klar, wie die Zusammenhänge eigentlich wirklich sind. Vorher bin ich davon überzeugt, das Richtige zu tun.“
„Gegen jede Not hast du dich tapfer gestemmt, um unschuldige Menschen vor dem zerstörerischen Zugriff eines gemeinen Täters zu bewahren.“
„Robin Hood lässt grüßen…“ sagt Mahisha grinsend.
…das hat in dir das Denken einer schicksalhaften Übermacht genährt. Robin Hood befand sich tatsächlich genau da.“
„Ja, es ist so, als hätte die Not ihr düsteres Spiel mit mir getrieben…“
„…und dann?“
„….beginne ich mich zu wehren, als wäre ich verletzt worden.“
„Sieh, Mahisha, du hast einen Tag lang gedacht, dass du auf der Ebene der Not kämpfst…“
„Ja, ja…genau auf der Ebene habe ich ja auch ganz glorreich verloren.“ Mahisha senkte nachdenklich den Kopf.
Abelina hebt ihr sanft den Kopf:
„Straf dich nicht mit Ironie ab, -- bitte.“ Beide schweigen eine Weile.
Ich habe Null Interesse daran, dass du dich schlecht fühlst…Es gibt nichts, was du an dir wegblenden, strafen oder verachten müsstest. „sagt sie freundlich und mit leichtem Nachdruck, bevor sie fortfährt:
„Wir basteln nicht an einer Baustelle, sondern gehen gemeinsam den höheren Weg. Sag mal, wer ist dieser Robin Hood überhaupt gegen dich?“ erregt sie sich dann leicht.
„Ich bin mehr als diese einflussreiche Symbolfigur? Er veränderte ganze Landstriche.“
„Liebling, du machst einen Witz. Zeig mir diese Landstriche, wenn er sie veränderte.“
„Zeig mir was ich verändert habe.“
„Kannst du dich an jene Nacht erinnern, in der dein großer Bruder dich fragte:
„Mahisha, was möchtest Du?“
„Ja. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen: Ich sagte zu Hekima: Ich möchte so sein wie du“ erinnert sie sich heiser.
„Da passierte es. Ein unvergesslich schöner Moment!“ sagt Abelina etwas sinnend.
Irgendetwas entzündet sich in Mahisha bei diesen Worten und es beginnt heftig in ihr zu brennen. Sie spürte ein Geheimnis hinter den Worten, das sie gerade der Unaufhörlichkeit entlockt.
Dieses Geheimnis erscheint ihr so unendlich tief, dass sie ihre Aufmerksamkeit kurz ablenken lässt von dem Heulen der Streifenschakale.
„Es ist so tief, dass ich kaum folgen kann…“
„Verstehen tust du mit deinem Herzen, den Verstand macht es verrückt und er sucht Ablenkung“, sagt Abelina lächelnd.
„Abelina, egal was du sagst, ich spüre immer nur Wohlwollen und Freude. Deine Gesellschaft ist schön.“
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