16. Der Vorhang

Schild

Lange kann Mahisha an diesem Abend nicht einschlafen. Sie hört die Sänge eines Medizinmannes in unendlichen Heilzeremonien. Er versteht sich als Medium zwischen dieser und jener Welt.
„Warum nur suchen diese Menschen einen Mittler?!?“
Dann schläft sie schließlich doch ein und sieht einen schweren, sehr großen Vorhang, dicker als eine Wand, undurchdringbarer als Guantánamo. Neugierig sieht sie sich um. Was um alles in der Welt mochte sich hinter diesem schweren Vorhang verbergen? Wer oder was musste hier so sorgsam beschützt werden?
„Komm nicht zu nah!“ drohte ihr ein mächtig aussehender Mann in einem langen Gewand. Mahisha bleibt sofort von der Kraft der Worte gebremst stehen. Ja, ganz offensichtlich, was auch immer sich hinter dieser Absperrung befand, es benötigte eine strenge Wache. Also musste es sich wohl um etwas sehr Wertvolles aber Schutzbedürftiges handeln oder um eine große Gefahr.
Dann beobachtet sie eine Person, die entschlossen und im Bewusstsein eine Hoheit zu sein, herannaht. Sie schiebt den Vorhang mit einer Hand zur Seite, so als wäre er aus Papier und schreitet erhaben hindurch. Die Wächter erstarren – eingefroren vor Entsetzen, dann beschimpfen und bedrohen sie die Person. Sehr, sehr lange hatte keiner mehr gewagt einfach durchzugehen und so kam die Aktion so überraschend, dass sie wohl nicht schnell genug reagieren konnten. Als klar wird, dass die Schnellschüsse der Bedrohung und Einschüchterung nicht helfen, beordern sie unverzüglich Scharfschützen, die Schüsse abgeben. Einige Schüsse müssen den Mann getroffen haben. Aber schon ist er verschwunden. Dann sieht sie eine weitere Person herannahmen. Sie erkennt den vertrauten Schritt von Lesley. "Lesley, sie werden auf dich schießen“, schreit sie laut und voller Panik.
Aber Lesley reagiert nicht einmal. Und tatsächlich, niemand scheint ihn festhalten zu können oder unternimmt auch nur einen Versuch dies zu tun, aber sie sieht, wie er aufs übelste beschimpft und sein Ruf gemordet wird. Sie bemerkt deutlich, dass er lächelt und etwas singt: „Es ist einfach nur schön...“.
„Niemand geht hier gut gelaunt und Kinderlieder singend umher“, blafft ihn einer der Wachtposten an. Hier naht man sich auf Knien und mit gesenktem Kopf.“ Eine Druckwelle von Einschüchterung begleitet seine Worte. Aber Lesley erreicht sie nicht.
Lesley bleibt kurz stehen und schaut den Mann fest an: „Warum gehst du nicht? Er ruft dich!“ sagt er ernst. Der Wachtposten gerät einen Moment lang aus der Fassung. Leicht wankt er sogar, fängt sich dann aber wieder. Lesley ist schon weiter gegangen.
Es ist so, als lache er sich gleichsam den Weg frei. Kurz bevor Lesley durch die scheinbar undurchdringbare Absperrung schreitet, dreht er sich um und sieht Mahisha direkt an: „Komm, Mahisha!“ Ohne zu zögern und mit dem Blick fest auf Lesley gerichtet geht sie los. Sie sieht Lesleys ausgestreckte Hand. Dann hört sie auf einmal überall Stimmern, die auf sie eindringen: „So einfach kann es nicht sein!“-„Bleib in der guten Lehre deiner Vorfahren!“- „Wenn du das tust, wirst du alles verlieren.“ -„Er ist ein strenger Gott, der viel fordert.“-„Geh nicht, du bist noch nicht bereit!“- „Glaube diesem Lügner nicht!“- „In tiefer Sorge warnen wir dich!“- „Wir wollen uns noch einmal mit dir treffen und alles besprechen!“- „Wenn du gehst, sind wir geschiedene Leute!“ - „Du sollst wissen, wie sehr wir dich schätzen…“ Mahisha schaut nur ein einziges Mal auf, in die Augen einer der Kontrolleure. Der lächelt sie sofort an und reicht ihr die Hand.
Alles ereignet sich im Zeitlupentempo. Die Zeit ist für Mahisha unter der Lupe ihrer scheinbar schwersten Herausforderung. Man scheint noch nicht wirklich damit zu rechnen, dass sie hindurchgehen wird und wackelt wohlwollend mit den Köpfen.
„Woher kommt nur dieser starke Sturm?“ Mahisha strauchelt leicht. Sie hat das eine oder andere Wort eingelassen, so wie man einen guten Bekannten in die Wohnung lässt, und da hat es Kraft sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann schaut sie wieder auf die ausgestreckte Hand. Sie sieht in Lesleys entspanntes, fröhliches Gesicht – ganz und gar im Wiederspruch zu all diesen scheinbar tief besorgten, zürnenden Bewachern.
„Lesley, ich kann noch nicht! Irgendwie kann ich mich nicht mehr richtig bewegen.“ schreit sie.
Lesley nickt und geht. Da durchfährt sie ein Schmerz und sie wünscht sich mit ihm hindurchgegangen zu sein.
Dann hat Lesley den schweren Vorhang erreicht und geht einfach hindurch, so als wenn gar keine Absperrung, sondern nur eine kleine Schwelle vorhanden sei. Mahisha spürt einen leichten Windzug als der Vorhang sich öffnet.
Mahisha wacht auf und weiß, dass das alles kein Traum war. Es ist nur eine andere Wirklichkeit.
Gerne hätte sie Lesley einige Dinge gefragt. Seit dem Traum ist ein Begehren in ihrem Herzen geblieben – ein heißes Verlangen zu tun, was Lesley einfach tat und sie kann den Ruf hören: „Komm, Mahisha!“ Überall hört sie dieses Rufen.
„Rafiki, du musst es doch auch hören…“
„Was meinst du, Alabasterhaut?“
„Ich meine das Rufen.“
„Mahisha, sagt Rafiki ernst, seit deiner Krankheit bist du ein wenig komisch...“
"...oder gar verrückt!?" ergänzt Mahisha die unausgesprochenen Worte.
"Ja, schon. Aber auch so zufrieden wie ein sehr tiefer Brunnen“, sagt Rafiki.
"Also schöpf nur, wenn du magst."
"Alabasterhaut, „ sagt Rafiki sehr ernst," es kommt gewiss der Tag, da werde ich es tue. Ich spüre, dies hat mit dem Hawakupata nichts zu tun."
"Mahisha, ich vergaß dir ganz zu sagen, dass dein schöner Verehrer draußen auf dich wartet. Ich bringe Euch einen Jubu-Saft und Tee raus."
"Danke, Rafiki."
Mahisha schiebt den Bambusvorhang zur Seite und tritt auf die Veranda.

John erhebt sich:
"Ich freue mich, dich zu sehen. In letzter Zeit hast du dich etwas rar gemacht..."

John Mahiri ist als Entwicklungshelfer ins Land gekommen. Mahisha und John lernten sich bei der Übergabe eines Brunnen an die Einheimischen kennen. Seit dem genießt Mahiri jede Minute, die er mit Mahisha verbringen kann. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er bei ihr das Gefühl nicht mehr an der Leistung gemessen zu sein.

Mahisha scheint den leisen Vorwurf gar nicht bemerkt zu haben. Sie hört John zu, der begeistert von den neusten Projekten erzählt und stellt hier und da eine Frage.
"Mahisha, sag mir, was beschäftigt dich?"

„John, bisher hielten wir Träume für die Phantasie oder einen Art Schauplatz unserer Seele. Aber es ist eine gewisse Welt – vielleicht sogar die ursprüngliche Wirklichkeit, “ sagt sie und wartet John-Mahiris Reaktion ab. Er nimmt langsam einen Schluck Chai, des besten afrikanischen Tees mit viel Milch.

„Wirklichkeit ist für mich, was ich denken kann.“
"Das fühlt sich an wie eine sichere, kontrollierbare Welt. Wenn ich dir ein wenig Gesellschaft leisten möchte, bitte ich um Einlass in deine Gedanken-Wirklichkeit?“
„Du meinst deine Wirklichkeit ist eine andere als meine?“
„Ja. Das ist mir zu eng da oben“, sagt Mahisha und tippt sich dabei lachend an die Stirn. "Vielleicht erschaffst du dir deine eigene Welt, die du dann Wirklichkeit nennst.“
„Aber ich treffe viele in dieser Welt.“
„Wirklichkeit ist keine Partei, sondern ein neues Land, vergleichbar mit einem Königreich. Nicht die Menge ist der Beweis für die Richtigkeit.“
Dann muss es mehre Welten geben oder einer irrt sich.“
John kratzt sich am Kinn: Wenn sie spricht scheinen seine Argumente ausgehebelt…
„Nennst du diese Wirklichkeit deswegen Gewissheit?“
„Ja, diese Wirklichkeit ist gewiss.“, dabei schaut sie John so durchdringend an, dass er wegschauen muss. Langsam fängt er sich wieder und sagt etwas unbeholfen:
"Du führst mich an den Rand meiner Welt. Schon spüre ich, dass ich sie verlassen müsste, um dir zu folgen...um da zu sein, wo du bist.“

Mahisha nickt: „So ist es“, sagt sie bestimmt aber dennoch behutsam.
Du wolltest mir erklären, dass Träume aus einer wirklichen Welt entstammen. Träume folgen doch nur meinen Vorstellungen und Phantasien, “ sagt John Mahiri schwach, so als würde er mit diesem Standpunkt letzte Sicherheit suchen, die er im Begriff ist zu verlieren.
„Denkst du? John-Mahiri, was ist, wenn es ganz anders ist? Ich habe da eine Vermutung.“
„Maaama Mahisha! Bitte kommen Sie, ein schwerkranker Mann wurde soeben gebracht.“
Ein Bote meldet die Ankunft eines afrikanischen Krankentransportes. Dabei handelte es sich um eine Art Bett von 4 Leuten, oftmals einen weiten Weg, getragen.
Sie erhebt sich und geht beschwingten Schrittes den Pfad zum Spital hinunter.
Er kann es kaum hören, aber es scheint, als wenn sie dabei ein Lied summt.

John-Mahiri schaut ihr nach: Bezaubernd diese Frau. Aber er schien in ihre Welt nicht vordringen zu können. Etwas fremdartiges, Faszinierendes umgibt sie. Wie sehr wünscht er sich, so unbekümmert und fast schwerelos leben zu können. Wenn es einen Weg gibt, sie in ihrer Welt zu besuchen und vielleicht zu bleiben, dann will ich ihn gehen.
Ihm kommt dann ein Gedanke, der ihn bleich werden lässt. Vielleicht liegt jener Weg tatsächlich völlig außerhalb seiner Gedankenwelt. Nein, dann würde er ihn niemals finden können.
Warum muss er sie nur so lieben – diese unerreichbare Weisheit?
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