4. Der Kuß

Ich scheine noch immer jedes Detail dieses Alptraumes abrufen zu können:
Hyänen versuchten sie zu zerfleischen. Sie kamen immer näher, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre weg zu laufen oder um Hilfe zu rufen. Das Fletschen der Hyänen wirkte sehr bedrohlich und Todesangst legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals.
Immer, wenn sie dachte, jetzt hätte sie eine Hyäne erreicht, schrie sie laut. Schließlich stellte sie zitternd fest, dass einfach gar nichts passierte. Im Traum geschah es dann, dass sie mit einem Mal ihren Körper sehen konnte und da sah sie es deutlich: Sie ist in ein Licht gehüllt. Nichts Lichtscheues ist in der Lage, dieses Licht zu betreten, um zu ihr zu gelangen und das allermeiste, was sie umgab, stellte sich als lichtscheu heraus.
Zu dem Zeitpunkt begann Mahisha zu wissen ohne es erklären zu können. Das was jetzt als Wissen in ihr war, berührte dann auch immer öfter die Sichtbarkeit. Manchmal sofort, manchmal auch erst nach Wochen oder Monaten. Der Traum war mehr als ein angstverzehrtes Bild der Seele. Zu der Zeit nannte sie das, was sie nicht einordnen konnte, genau wie die Eingeborenen "Mysterium".
„Mysterium, ich fühle, dass du es warst, der mich schützte. Ich wusste nicht, dass du so an mir interessiert bist, du ein bisschen weniger Geheimnisvoller. Warum hast du das nur getan?“ Sie weiß, dass der Dank gehört wurde und sie dreht sich auf die Seite und drückt sich in jenen geheimnisvollen Arm, der sie umgibt. Ein Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. „Wie wichtig es doch ist, zu wissen, dass man beachtet ist.“ Es ist zu kostspielig einen Arzt einzufliegen, aber ein Allmächtiger ließ es sich was kosten vorbei zu schauen oder blieb er gar?
„Wer soll diese Rechnung nur bezahlen…?“ schäkert sie leise mit dem geheimnisvollen Unbekannten. Dann schläft sie fest ein, so ruhig wie schon lange nicht mehr.
Ein bisschen von der Minderwertigkeit, welches sich an jene heftet, die von Menschen vielleicht weniger beachtet werden, schien sich in einem Augenblick gleichsam einer kleinen dunklen Wolke zu verflüchtigen.
Zwei weitere Wochen vergehen, Mahisha durchlebt diese Zeit völlig unbekümmert oder vielleicht besser schwerelos. Sie hört wie man sagt: "Sie ist dabei für immer ins Koma zu fallen." Die Schmerzen haben nachgelassen und die Zeiten, an die sie sich noch bewusst erinnern kann, werden weniger. Man sagt ihr, dass sie oft nicht mehr ansprechbar sei oder berichtet ihr von Dingen, die sie gesagt oder getan haben soll, an die sie keine Erinnerung hat. Sie lächelt darüber. Weil Mahisha nie über ihre Erlebnisse redet, schaut man sie an, als sei sie dabei einer geheimnisvollen Zerstörung ihres Verstandes zu unterliegen.
Dann passiert das Unfassbare: Ganz unverhofft schiebt sich ein unsichtbarer Vorhang auf und Mahisha betritt noch einmal im vollen Bewusstsein die afrikanische Erde. Vielleicht ist es ein Außerirdischer von jenen Sternen, der gelandet ist, um ihr ein Gesundheits-Gen zu bringen. Vielleicht hat es diesen Allmächtigen gedrängt, sich ihr zu erkennen zu geben. Dieser vertraute Windhauch, dieser innere Zug, der sie unsichtbar mit der Unaufhörlichkeit verbindet, ist da.
Tränen laufen ihr über die Wangen und sie flüstert: „Ich weiß, dass du gekommen bist!“ Auch wenn ich dich nicht sehe. Ich weiß es. Eine warme, weiche Energie flutet den sterbenden Körper. Sie genießt es und liegt einfach nur da - lange. Dann spricht eine Stimme zu ihr: „Deine Zeit ist noch nicht gekommen! Ich möchte Dir noch so viel zeigen…Sehen sollst du, was andere unbedingt sehen wollten, aber nur verschwommen sahen.“
Das Herz klopft ihr bis zum Hals als sie allen Mut zusammennimmt, um eine Bitte zu äußern: „Bitte geh nicht. Ich würde dich gerne kennen lernen!“
Dann ist es ganz unerklärlich so, als wenn sie jemand leicht auf die Stirn küsst.
Emma Schatzberg - 23. Apr, 03:23